Von Kopf bis Fuß auf Bosheit eingestellt
SCHAUSPIELHAUS / DER BLAUE ENGEL
20/09/12 Klar heißt die Aufführung „Der blaue Engel“, nach dem Film aus dem Jahr 1930, mit dem Marlene Dietrich – „von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt“ – in den Weltruhm startete. Doch die Ambition von Regisseur Robert Pienz geht in ganz andere Richtung. Er will dem Roman „Professor Unrat oder das Ende eines Tyrannen“ von Heinrich Mann zu seinem Recht verhelfen.
Von Reinhard Kriechbaum
Professor Raat, mit Spitznamen „Unrat“, ist im Film ein schrulliger, spießiger Moralapostel, eine Jammerfigur eigentlich. In der Romanvorlage läuft die Sache etwas anders. Da wird der verhärmte Besserwisser Unrat, nachdem er erst Mal auf die Fleischeslust gekommen ist, zur ultimativen Negativ-Figur. Mit der Diseuse Rose Fröhlich aus dem Etablissement „Der blaue Engel“, die er geheiratet hat, zieht er in seiner Villa einen Freudentempel auf, wo er die Bürgerschaft des Städtchens mit dem gleichen Fanatismus über die Klinge und ins Messer springen lässt, mit dem er sich dereinst gegenüber den Schülern als Sittenlehrer geriert hat.
Von einer „ausfallenden Geschichte“, schrieb der Autor kurz vor Erscheinen (1905), „weniger erotisch als geistig ausfallend“. Robert Pienz hat Heinrich Mann beim Wort genommen. Schärfer und un-erotischer kann man die Geschichte (in einer Theaterfassung von Peter Turrini) nicht erzählen. Harald Fröhlich ist dieser Prof. Immanuel Raat, ein seelen-deformierter Despot, der zu keiner unverkrampften Bewegung fähig ist und dauernd mit seinem Schlüsselbund Klopfgeräusche produziert, die seine sonderbaren Aussagen untermauern sollen. Den Begriff Liebe kenne er nur aus derLiteraturgeschichte, muss er sich von Schüler Lohmann sagen lassen, und das bestätigt sich auch dann, wenn er die Diseuse Rosa vermeintlich vergöttert. Unrat bleibt der Egomane, der Despot. So braucht die Diseuse Rosa – Katrin Daliot – gar keine verführerischen Töne anzuschlagen. Irgendwie ist sie Mittel zum Zweck und sich dessen auch bewusst. Auch wenn sie mehrmals sagt, dass sie sich ein Leben als Frau Professor anders vorgestellt habe.
Charme, Erotik – nein, das sind keine Themen in dieser rabiat gelesenen Aufführung. Das scheint dem Regisseur Robert Pienz dann doch ein wenig Angst gemacht zu haben, denn er hat mit der „Revuepuppe Kalinka“ eine Tänzerin eingeführt, die offenbar gerade diese Defizite korrigieren soll. Einerseits: beste Wahl, weil die international erfahrene Jasmin Rituper derzeit die technisch so ziemlich Beste aus der Salzburger Tanzszene ist. Andrerseits denkbar schlechteste Wahl, weil ihr Tanzstil viel mehr auf Sportivität und Gymnastik verweist als auf Erotik oder gar Laszivität. Selbst wenn sie ihren Oberkörper frei macht, denkt man über Muskeln nach und gar nicht über Sex Appeal.
So kommt es, dass die gefühlten hundert Tanzeinlagen einen präzise gedachten und schauspielerisch ansprechenden Theaterabend extrem längen. Thomas Enzi spielt den Jung-Intellektuellen Lohmann, Albert Friedl den Draufgänger Von Erztum, Andreas Plank den Musterschüler Plank. Die drei, wiewohl ein Klischee jede Rolle, wirken locker und natürlich. Frau und Herr Kiepert – Daniela Enzi und Georg Reiter – sind als Crew im „Blauen Engel“ tätig und obendrein als Erzähler der Geschichte eingesetzt: pralle Theaterfiguren, immer hart an der Grenze zum Überzeichnen. Doch das hat Stil und bringt Farbe. Nach der Pause wandelt sich die Stimmung grundsätzlich. Der Lust-Rache-Feldzug des Professor Unrat wird umgemünzt in eine Art Totentanz, chorisch erzählt und kommentiert vom Ensemble.
Ein Manege-Rund mit Publikum an drei Seiten, der Künstlergarderobe ein Stockwerk höher, über eine steile Leiter zu erreichen. Zwei laufstegartige Zugänge durch die Publikumsreihen: Ragna Heiny hat sich diese Ausstattung ausgedacht. Dort hoch oben steht auch das Klavier bereit für Fabio Buccafusco. Die Chansons sind eminent wichtig, aber sowohl Fabio Buccafusco als auch Katrin Daliot (deren Stärken eindeutig im Musikalischen und nicht in der Mimik liegen) wissen, dass es nicht bei einem Marlene-Dietrich-Abklatsch bleiben darf. Sie hat zwar deren tiefes Timbre drauf, aber die Gesangseinlagen haben ureigenes Charisma, führen den für die gesamte Aufführung prägenden schneidigen Tonfall weiter.
Wer mit der am Film von Josef Sternberg geprägten Erwartungshaltung ins Schauspielhaus geht, wird möglicherweise schwer enttäuscht sein. Wer bereit ist, sich auf Heinrich Mann, auf die Gesellschaftskritik der literarischen Vorlage einzulassen, wird profitieren. Weil ganz ehrlich: Wer hat den „Professor Unrat“ schon wirklich gelesen, und wer weiß, dass der Titel weiter geht mit „Das Ende des Tyrannen“?