Reise in die innere Hölle
OPERNHAUS ZÜRICH / L'ORFEO
22/05/24 Man muss lange in den Spielplänen des Opernhauses Zürich zurückblättern, bis man auf L’Orfeo stößt. 45 Jahre ist es her, dass Nikolaus Harnoncourt und Jean-Pierre Ponnelle im Rahmen ihres für die Entwicklung der historisch-informierten Musizierpraxis bahnbrechendem Monteverdi-Zyklus mit diesem Werk einen Markstein setzten.
Von Oliver Schneider
1993 hätte Harnoncourt nochmals für ein konzertantes Gastspiel mit seinem Concentus Musicus und dem Arnold Schoenberg Chor an den Zürichsee kommen sollen. Damals fiel seine Mitwirkung aus gesundheitlichen Gründen aus. Orfeo-Darsteller Anthony Rolfe Johnson sprang noch zusätzlich als Dirigent ein. Nun schließt das Opernhaus Zürich seinen Monteverdi-Zyklus mit einer Neuproduktion von L’Orfeo ab.
Von Ponnelles Ästhetik ist Evgeny Titov mit seiner Deutung weit entfernt. In einer grauen Einöde schaufelt Orfeo das Grab für seine von einer Schlange gebissene, frisch angetraute Gattin Euridice. Eine Rückblende, bevor fröhliche Hochzeitspaare (die Zürcher Singakademie tadellos vorbereitet von Marco Amherd) mit Orfeo und Euridice das kurze Eheglück feiern.
Evgeny Titov erzählt uns eine Reise in die schwarze Seele Orfeos. Und nicht nur das, denn für ihn steht Orfeo als Symbol für jeden für uns, in dessen Innerem es ähnlich dunkel und traurig aussieht. Kurze, fröhliche Momente wie das Hochzeitsfest können darüber nicht hinwegtäuschen. Ein bisschen etwas von Ponnelles barocker Ästhetik ist mit der Pforte zur Hölle geblieben (Bühne: Chloe Lamford und Naomi Daboczi), aus dessen Portal Caronte, der Hüter der Schwelle, auf den mit Vehemenz und flehentlich um seine Frau bittenden griechischen Sänger blickt, und den Zugang zur Unterwelt verweigert. Aber irgendwann schläft Caronte zum Glück über Orfeos Klagen ein und dieser kann in die Hölle hinein huschen, wo Hausherr Pluto und seine Gattin Proserpina im kühlen, hellgrauen Bunker Hof halten. Aus der Rückkehr von Orfeo und Euridice wird bekanntlich nichts. Ebenso wenig aus Orfeos Himmelfahrt gemeinsam mit seinem Vater Apollon, denn dessen Deus-ex-Machina-Funktion passt nicht in Titovs Regiekonzept – und wohl auch nicht mehr zu unserem Erfahrungshorizont. Nachdem die Musik verklungen ist und der Vorhang gefallen ist, erschießt sich Orfeo.
Idee und Umsetzung gehen auf und überzeugen einen Großteil des Publikums bei seinem kurzen, heftigen Applaus. Mehr Zustimmung gab es bei der Premiere aber für die musikalische Umsetzung der Favola in Musica. Ottavio Dantone führt das Originalklang-Orchester der Oper Zürich, La Scintilla, mit Vitalität und mit genauen dynamischen Abstufungen durch das kompakte Werk, dessen Spannungsbogen leider durch eine Pause nach dem zweiten Akt ein wenig gestört wird.
L’Orfeo ist für den Hof des Herzogs von Mantua entstanden. Damit stand Monteverdi für die Aufführung ein verhältnismäßig großes und mit Zinken und Posaunen reich besetztes Orchester zur Verfügung, für das er entsprechend prächtige Vor- und Zwischenspiele komponierte, die in Zürich prägnant und mitreißend erklingen. Am Premierenabend haperte es hingegen im ersten Teil noch ein bisschen an der Koordination zwischen Orchester und Bühne, aber das wird sich im Laufe der nächsten Aufführungen sicherlich einschleifen.
Gut ist die Besetzung. Krystian Adam gibt den unglücklichen Sänger mit berückender Tiefgründigkeit und gestalterischer Noblesse. Miriam Kutrowatz, die zurzeit Mitglied des Opernstudios der Wiener Staatsoper ist und 2021 in Salzburg am Young Singers Project teilgenommen hat, überzeugt mit beweglichem Sopran. Simone McIntosh kann als sehr emotionale Speranza noch stärker punkten als in der Rolle der Proserpina, die dem Eheglück von Orfeo und Euridice noch eine zweite Chance auf Erden geben will, Mirco Palazzi verleiht den Spielverderbern Caronte und Pluto markige Töne, die schlussendlich das entscheidende Gewicht haben. Mark Milhofers schließlich stattet den erfolglosen Apollo, der seinen Sohn in den Himmel mitnehmen will, mit charismatisch-elegantem Tenor aus.