Aus dem Reich der ersten Erbsenzähler
REISEKULTUR / TÜRKEI / OSTANATOLIEN (2)
25/11/22 Für die weitere Entwicklung der Menschheit ganz wichtige Dinge sind zwischen Euphrat und Tigris erfunden worden. Die Schrift zum Beispiel. Oder das Rad. Nicht unwichtig das Bier. Und – nicht lachen! – die Bürokratie. Eine ordentliche Verwaltung gehörte eben auch von Anbeginn dazu, als sich die ersten Staatswesen bildeten.
Von Reinhard Kriechbaum
Im alten Mesopotamien hingen auch die ersten Weintrauben an Rebstöcken. Als DrehPunktKultur kürzlich zu einem Besuch zu den türkischen UNESCO-Welterbestätten eingeladen war, führte der Weg auch zu einem Winzer mit wahrhaft weiter Geschichtsperspektive. Weil eben schon vor vielen Jahrtausenden Wein gezogen wurde im Zweistromland, wolle er nun „seinem Land etwas zurückgeben“, erklärte Nilüfer Akkus mit spürbarem Missionseifer.
Der Beruf des Winzers ist ja durchaus verhaltensauffällig in der Türkei angesichts einer Regierung, die in jeder neuen Hochhaussiedlung auch eine Moschee bauen lässt. Nicht nur in Südostanatolien wachsen die Städte mit atemberaubender Geschwindigkeit. Die Türkei hat unterdessen zehn Millionenstädte, Istanbul allein zählt 13 Millionen Einwohner. Die hohe Inflation führt dazu, dass Geld möglichst rasch verbaut wird, und so wachsen uniforme Hochhaussiedlungen die karstigen Hügel hinauf – und auf jeder dieser Baustellen entdeckt man zwischen den Rohbauten auch neue Moscheen. Die Imame sind in der Türkei übrigens Staatsangestellte, was viele Türken aus gutem Grund kritisch sehen. Nicht nur deshalb, weil sie mit ihren Steuern mitzahlen müssen, auch wenn sie mit dem Islam nicht so viel am Hut haben.
Aber zurück zu unserem fleißigen Winzer, dessen Weingärten in einem Tal etwa zwanzig Kilometer von der Stadt Elazığ entfernt liegen. In einem repräsentativen Steinhaus ist auch ein Hotel mit liebenswürdiger Ausstattung eingerichtet. Einen Zwei-Wochen-Urlaub wird man dort eher nicht verbringen, aber zwei Ruhetage könnte man schon einlegen auf einer Kulturreise in diesen Winkel der Türkei. Die Beurteilung des hier gezogenen Weins wollen wir gerne echten Kennern überlassen.
Und wie ist das nun mit der Bürokratie im alten Mesopotamien? Im archäologischen Museum der Stadt Malatya liegt ein Werbefolder über den seit 2021 im Rang einer UNESCO-Weltkulturerbestätte stehenden Hügel von Arslantepe auf: „Where the bureaucracy was born“ – damit zu werben, muss einem erst einfallen. Dahinter steht aber eine faszinierende Entwicklung in der frühen Gemeinwesen-Wirtschaft. Tempelwirtschaft ist das Stichwort. Diese Hypothese geht davon aus, dass von den Kultstätten aus die ersten Regulative für eine geordnete Wirtschaft im Gemeinwesen ausgegeben worden sind. Ob im sumerischen Mesopotamien wirklich jede ökonomische Tätigkeit auf die Tempel ausgerichtet gewesen ist, darüber streiten heutige Historiker. Darum sprechen die Archäologen in Arslantepe auch nicht von „Priestern“, sondern eher neutral von einer „Elite“, bei der landwirtschaftliche Produkte abgeliefert wurden, die sich im Gegenzug darum gekümmert hat, dass das arbeitende Volk genug und regelmäßig zu Essen hatte.
Wenn in irdenen Gefäßen oder Säcken Nahrungsmittel in die Tempelanlage gebracht wurde, dann traten die Erbsen-, padon Getreidekorn-Zähler in Aktion. Sie führten pingelig Buch bzw. Tontafe in Keilschrift, und auf den Gebinden wurde genau bestätigt, dass alles ordnungsgemäß faktoriert wurde: Auf kleine Tonklumpen an den verknoteten Schnüren wurden Siegel gestempelt, die das bestätigten.
Das Besondere an dem riesigen Hügel von Arslantepe am Stadtrand von Malatya ist, dass es die einzige über alle Zeitläufte hinweg ungestörte Fundstätte im mesopotamischen Raum ist – und wir reden da von einer Zeitspanne von (nach derzeitigem Wissensstand) 5.800 Jahren. Da hat man also in den seit 1961 betriebenen Grabungen Gefäße sonder Zahl aus der Erde geholt und eben auch Hunderte solcher Ton-Siegel, die das Funktionieren der „Bürokratie“ bestätigen.
Es würde hier zu weit führen, die zeitlichen Schichten und dazugehörige Funde zu beschreiben, wie sie die Archäologen nach und nach freigelegt haben und noch freilegen. „Die Ausgrabungen von neolitischen Überresten sind noch Zukunftsmusik“, sagte unser sachkundiger Führer. Man denkt hier in ansehnlichen Zeitspannen und als Besucher setzt man seine Füße mit gewisser Ehrfurcht auf den Boden, unter dem noch so manch Aufschlussreiches über die Geschichte menschlicher Zivilisation schlummert.
Die auf jedem Tourismusprospekt abgebildeten steinernen Löwen, Teil einer Toranlage, haben der Fundstätte den Namen gegeben. Arslantepe heißt Löwenhügel. Diese Skulpturen und die große Statue eines Meliden-Königs mit dem mutmaßlichem Namen Mutallu stammen übrigens aus jüngerer Zeit. Für Wissensprotzer, aus der späthethitischen Periode (1050-800). Es sind Kopien, die Originale sind in Ankara in Museums-Obhut. Aber auch das archäologische Museum in Malatya hat tolle Dinge herzuzeigen. Zum Beispiel die ältesten Schwerter der Menschheitsgeschichte. Schon die ganz frühen Bürokraten wussten ihre Macht zu verteidigen. (Wird fortgesetzt)
DrehPunktKultur war von der türkischen Tourismuswerbung Go Türkye eingeladen auf eine Tour zu UNESCO-Weltkulturerbestätten im Zweistromland.
Touristische Informationen über das türkische Mesopotamien – gomesopotamiaturkiye.com
Speziell zur Region Malatya – malatya.goturkiye.com
Das Weingut Eskigablar ligt nahe Elazığ – www.eskibaglar.com.tr
Bilder:dpk-krie
Zur ersten Folge Die Götter müssen berg-verrückt sein