Mariens Leiden unter dem Kreuz
CD-KRITIK / ANDREAS SCHOLL
29/03/24 Aus der Marien-Ikonographie wohl vertraut ist das Motiv der unter dem Kreuz stehenden Mutter Christi, deren Herz ein Schwert durchdringt. Es sind nicht nur Stiche, es sind geradewegs Schwerthiebe, die Maria in Antonio Vivaldis Stabat Mater durch die die Accademia Bizantinia abkriegt.
Von Reinhard Kriechbaum
Andreas Scholl hat dieses wohlbekannte Stück an das Ende seiner Zusammenstellung von Invocacioni mariane, marianischen Anrufungen, gestellt. Er gewinnt ihm so manche charismatische Facette ab, indem er ganz aufs Erzählerische setzt. Vivaldi verlange einen Sänger in der Art eines Bach-Evangelisten, schreibt Scholl sinngemäß im Booklet. Dieser Testo müsse hier die Balance finden muss zwischen „storytelling“ und Verführung der Zuhörer zum Mitempfinden. Das gelingt nicht zuletzt so gut, weil Scholl sich immer punktgenau einzuklinken weiß in die fabelhaften rhetorischen Angebote der Streicher.
Überhaupt bringen Andreas Scholl und die Accademia Bizantinia in diesem zum großen Teil aus neapolitanischen Quellen zusammengestellten Programm die Früchte jahrzehntelanger Zusammenarbeit und daraus resultierender minutiöser Übereinstimmung ein. Höchst einprägsam gleich das erste Vokalstück, Occhi mei aus Nicola Porporas Passionsoratorium Il trionfo della divina giustizia ne' tormente e morte die Gesù Cristo. Ein ausdrucksstarkes Seufzen im Vokalen genau so wie in den drei kontrapunktisch dicht gearbeiteten Streicherstimmen, immer deutlich vernehmbar der Trauer signalisierende chromatische Quartfall in einer der Stimmen. Die Ouvertüre zu Leonardo Vincis Oratorio Maria dolorata ist ein verkapptes, höchst wirbeliges Violinkonzert, aufgebrochen durch höchst dramatische Einwürfe – so etwas machte gleich mal Appetit aufs ganze Werk.
Wie Vorwegnahmen des empfindsamen Stils wirken zwei pietistische Arien von Leonardo Vinci, in denen einem der Countertenor (in einem Fall mit Begleitung eines Solocellos, im zweiten mit zwei Blockflöten zu den Streichern) die Marienverehrung mit einnehmenden Kantilenen beinahe suggestiv bezwingend nahebringt. Pasquale Anfossi gehört mit seinem Salve Regina aus dem Jahr 1779 schon einer anderen Zeit an. Jener, in der beispielsweise Mozart von seinen Italienreisen prägende Eindrücke mitgenommen hat, die direkt in seine frühen Opern geflossen sind. Was Anfossi verbunden hat mit dem neapolitanischen Hochbarock, aus dem er als dort ausgebildeter Musiker herausgewachsen ist, ist der untrügliche Sinn für einprägsame Melodik. So üppig der Melos rinnt: Andreas Scholl ist ein Garant dafür, dass Textdeklamation und -gestaltung zu ihrem recht kommen. Er verliert sich nie in den Sentimentalitäten.
Warum hat sich in die Werkfolge ein Violinkonzert von Pergolesi verirrt? Es wird argumentiert, dass darin Themen aus Pergolesis Kirchenmusik auftauchen. Mag sein, dass Pergolesi bei seinen Zeitgenossen mit Wiedererkennungseffekten rechnen konnte.