Und wenn sie nicht gestorben sind
NEU IM KINO / LE HAVRE
09/11/11 … dann leben Marcel und Arletty noch heute in glücklicher Armut in ihrem malerischen Quartier in Le Havre. dann ist der Flüchtlingsbub Idrissa aus Afrika nach seinem Umweg über die französische Hafenstadt gut bei seiner Mutter in London angekommen. Dann verbirgt Kommissar Monet seine Menschlichkeit noch immer erfolgreich unter seinem schwarzen Trenchcoat.
Von Heidemarie Klabacher
Es ist ein Märchen, nichts anderes, was Aki Kaurismäki mit seinem jüngsten Film - Le Havre - seiner Fangemeinde beschert. Dieser wundersame Streifen lebt ganz von den geradezu wundersamen Schauspielerinnen und Schauspielern: André Wilms als charismatischer Querdenker, Schuhputzer und Ex-Bohemien Marcel scheint überhaupt nicht zu schauspielern, sondern einfach den Gedanken und daraus logisch resultierenden Handlungen seiner Figur zu folgen.
Und für diese wäre es undenkbar, dem kleinen Buben, der da im Hafenbecken von Le Havre vor ihm auftaucht, nicht zu helfen. So ist es also an der Zeit, den eigenen Beruf auf die eigenen Schuhe anzuwenden, die Krawatte und den Anzug anzuziehen, und den Großvater Idrissas - einen würdevollen Patriarchen - im Auffanglager zu suchen.
Undenkbar für Marcel ist es freilich auch, sich vorzustellen, dass seine Frau Arletty ernsthaft krank sein könnte. Kati Outinen, die immer wieder in Kaurismäki-Filmen zu sehen ist, berührt in Le Havre als scheinbar so strenge Pedantin, die doch nur eine treusorgende Ehefrau ist, die ihren Pappenheimer sehr gut kennt und weiß, was er ertragen könnte und was nicht.
Sogar der Bub Idrissa - schweigsam und von zurückhaltender Noblesse der junge Blondin Miguel - erkennt, dass Marcel ohne Arletty nicht leben könnte. Also bleibt ihr tatsächlich nichts anderes übrig, als zu überleben (weil es dezidiert ein Märchen ist, eine Utopie, darf man das verraten.)
Dass all das Gute passieren darf, ohne dass die geradlinige Geschichte, die meisterhaft knappen Dialoge oder die unprätentiös - aber doch poetisch langsam - geschnittenen Bilder auch nur einmal in Kitsch oder Sozialromantik abgleiten: All das ergibt das „Wundersame“ in diesem neuen Kaurismäki.
Eine Meisterleistung liefert auch Jean-Pierre Darroussin als Kommissar Monet: eine unheimliche und bedrohliche Gestalt im schwarzen Mantel, die Gutes tut, ohne die steinerne Mine auch nur einmal zu verziehen. Sie alle liefern zusammen mit den Darstellerinnen und Darsteller der vielen kleineren Figuren im Viertel - der Obsthändler und seine Frau, die zarte toughe Barbesitzerin, der Chefarzt im Krankenhaus, der Denunziant - eine heraussagende Ensembleleistung. Nicht zu vergessen, dass Kaurismäki vom unmenschlichen Umgang mit Flüchtlingen erzählt und unter dem Märchen massive Sozialkritik steckt!