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Emotionales Hochwasser auf Gut Serebrjaków

REST DER WELT / WIEN / ONKEL WANJA

05/11/12 Mit einem Knalleffekt hebt der Abend an, mit einer Vorblende auf jene Szene, da Wanja die Waffe auf den verhassten Professor richtet. Aber nach dem Kurzzeit-Tumult fahren die Dekorationen hoch und wir finden uns doch am Beginn von Tschechows Stücks. Matthias Hartmann inszenierte „Onkel Wanja“ im Akademietheater.

Von Reinhard Kriechbaum

Auf der nackten Bühne bekommen wir nach und nach die Einsamen auf dem Landgut zu Gesicht. Bloß ein paar verstreute Gartensessel (und ein Tisch mit dem unverzichtbaren Samowar natürlich) – wie viele Schritte sind da doch notwendig von hinnen nach dannen, von einem Gesprächspartner zum anderen!

Bald wird auch die Deko wieder heruntergelassen aus dem Schnürboden, zwei, zuletzt drei Wände hintereinander, mehr Luft und Fensterausschnitt als Material, ganz hinten Spiegelglas: Es ist alles äußerst durchsichtig, durchschaubar. Ein Verstecken voreinander und vor sich selbst ist schwer denkbar. Natürlich ahnt ein jeder auf dem Landgut, dass man am Ende ist, mit sich selbst und mit der Gesellschaftsform als solcher. Bedrohliche Stimmen klingen zwischen den Akten aus dem Dunkel, umzingeln die Zuschauer. Es sammelt sich wohl schon der Mob draußen, um der dekadenten Clique auf den Landgütern ein Ende zu bereiten, die da ausschließlich mit ihrer Fadesse beschäftigt ist und mit grandiosem Selbstmitleid ihre Marotten zelebriert.

So weit also nichts Neues unter der Sonne des Akademietheaters, wo Burgtheater-Direktor Matthias Hartmann „Onkel Wanja“ mit einer Luxusbesetzung umsetzt. Endzeitlich-nah an Tschechow, wenn auch sprachlich moderat verheutigt. Was diesen „Onkel Wanja“ abhebt vom Handelsüblichen, ist die deutlich erhöhte Temperatur. An dem für Tschechow-Verhältnisse bemerkenswert kurzweiligen Abend haben wir alles andere als Blässlinge vor uns. Diese Leute scheren sich nicht viel um das Wahren des eigenen Gesichts und des schönen Scheins. Man poltert und keift halsüberkopf drauf los. Aber wer solche Schauspieler an der Hand hat, von Gert Voss bis Michael Maertens, von Nicholas Ofczarek bis Branko Samarowski, von Caroline Peters bis zu Elisabeth Orth, kann getrost heftig an der Emotions-Schraube drehen. Hartmann spart nicht mit Bizarrerie. Die muss man nicht goutieren, aber sie hat System.

Gert Voss ist der Erzschurke, der alte Kunstprofessor Serebrjakow, der sich wahrscheinlich wirklich nicht so sehr auf die bildende Kunst versteht (was Wanja argwöhnt), sondern vor allem darauf, sich zum familiären Kultobjekt hoch zu stilisieren. Immer vermeint man ein ironisches Lächeln in den Mundwinkeln zu sehen, wenn dieser Grand Guignol des zelebrierten Leidens mit schmerzverzerrtem Gesicht den ihm zustehenden Respekt einmahnt. Kein Wunder, dass seine Frau Elena – Caroline Peters – beständig an der Kippe zum Durchdrehen steht. Ihre Aussprache mit der Stieftochter Sofja: ein Wodka-ertränktes wechselseitiges Drauflosheulen.

Den Gefühlswogen öffnet Matthias Hartmann jedenfalls alle Schleusentore. Weniger Hemmungslosigkeit wäre vermutlich oft mehr Tschechow. Aber es gelingt dem Regisseur erstaunlich gut, auch bei emotionalem Hochwasserstand zwischen den Personen Gleichgewicht herzustellen. Nicholas Ofczarek als Wanja lässt seinen Frust handgreiflich raus, zermalmt mit seiner hoffnungslosen Leidenschaft beinahe des Professors Gattin Elena. Ein Poltergeist, der dauernd davon redet, dass er das Leben versäumt und ihn das Alter eingeholt habe, der sich aber eher als pubertärer Berserker auf Langstrecke geriert. Ganz anders der Doktor Astrow von Michael Maertens: „Er soll elegant und sensibel auftreten, aber ohne echte Leidenschaft“, heißt es in Tschechows Anweisung. Maertens löst das mit dem leicht besserwisserisch anmutenden Näseln, das er so gut drauf hat. Sein Astrow ist der große Realsatiriker am Gutshof. Am Ende, wenn Elena und der Professor endlich doch abreisen, wird er für die vergeblich Angebetete von sich aus gerade einen flüchtigen Kuss auf die Wange übrig haben (sie ist es, die dann die Initiative ergreift).

Barbara Petritsch als Mutter und Branko Samarovski als ehemaliger Gutsbesitzer Telegin stehen für die unbewegliche Gesellschaft, Stichwortbringer aus einer alten Zeit, machtlose Beobachter. Einfach grandios Elisabeth Orth als Kinderfrau Marina. Sie hat wenig zu reden und viel zu sagen, sie tut das mit Blicken. Man sollte den ganzen Abend lang immer auch auf sie schauen.

Umso mehr Worte macht bekanntlich die junge Sofja, die vergeblich den Doktor anhimmelt und unermüdlich ihre eingelernten Sätze von einer besseren Welt hervorsprudeln lässt. Wie erbarmungswürdig Sarah Viktoria Frick hergerichtet ist, mit Wollstrumpfhose und Hornbrille! Der Bühnenboden ist eine Art Kunstrasen, in den die kleine Sofja noch viel weiter einzusinken scheint als die anderen. Auch da geht es alles andere als mit feinsten Mitteln zu, das Übertreiben hat Matthias Hartmann für den Abend zum System erklärt. Aber am Ende wächst diese Sofja über sich hinaus. Es geht zu Herzen, wenn sie mit ihren Trippelschritten zwei Schachteln mit unerledigten Rechnungen herbei trägt und ihren resignierenden Onkel Wanja zur Buchhaltung anhält. Das Leben geht, möglichst geregelt, weiter – auch wenn am Ende noch mal der Pöbel aus dem Dunkel hereindröhnt.

Aufführungen bis 26.12. – www.burgtheater.at
Bilder: Burgtheater / Reinhard Werner

 

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