Genauer hinschauen? Nicht schweigen?
KLEINES THEATER / ENGLISH DRAMA GROUP / KEEPING TOM NICE
21/05/2012 „When you have a handicapped child the whole family is handicapped...“ Beeinträchtigt ein behindertes Kind eine Familie? Wie sehr kann die Wahrnehmung Außenstehender von jener der Familienmitglieder abweichen? Darum geht es in dem Stück „Keeping Tom Nice“, das am Montag (21.5) in der Regie von Michael Darmanin im Kleinen Theater Premiere feierte.
Von Elisabeth Skokan
Hatte die English Drama Group Salzburg bisher die Fans des englischen Theaters mit Komödien wie Henry’s Wives oder Welfarewell unterhalten, so wählte Regisseur Michael Darmanin für dieses Jahr ein Sozialdrama von Lucy Gannon. Das Risiko, sich in das tragische Genre vorzuwagen, wurde vom Publikum mit gebannter Stille während der Aufführung und tosendem Applaus danach belohnt. Jegliche Sorge, die Amateurdarsteller könnten an der schwierigen Aufgabe scheitern, die Lucy Gannons Stück zweifellos stellt, war von der ersten Szene an vergessen.
Die Hauptpersonen zeigen Emotionen, die man ihnen vollends abnimmt. Ein Chorus aus sechs Darstellerinnen verstärkt in schlüssiger Weise die Kernaussagen des Stücks. Gavin Lyons spielt den Vater Doug Davies, der zwischen unbeherrschter Aggression, erdrückender Liebe und resignierter Müdigkeit schwankt. Mutter Winnie (Judith Winter) ist damit beschäftigt, zu funktionieren und die emotionalen Ausbrüche ihres Mannes aufzufangen. Matthias Probst besticht in der Rolle des behinderten Sohns Tom mit seiner durchgängigen Präsenz, und das obwohl er sich kaum bewegt (Tom sitzt abwechselnd im Rollstuhl oder liegt im Krankenbett) und bestenfalls inartikulierte Laute von sich gibt. Toms Schwester Charlie, gespielt von Emily Mahoney, überschüttet Tom mit ihrer Liebe und scheint dabei hin und wieder die Grenzen der Geschwisterliebe aus den Augen zu verlieren.
Eine besondere Rolle kommt dem Sozialarbeiter Stephen (Nick Edgeworth) zu, der in Tom etwas Außergewöhnliches sieht und seine Hilfe der Familie Davies förmlich aufzwingt. Doch Stephens Hilfe ist unerwünscht. Zunächst bleibt offen, ob seine Vermutung, Tom könnte von seiner Familie nicht die optimale Pflege erhalten – ja möglicherweise sogar misshandelt werden, nicht nur Ausdruck seiner Obsession für Toms „Fall“ ist. Im Laufe des Stücks jedoch verdichten sich die Hinweise, dass es Anlass für Stephens Befürchtungen geben könnte…
Die Intention des Regisseurs war es, anhand der fiktiven Geschichte von Tom Davies und seiner Familie ein Thema in unser Bewusstsein zu bringen, das uns alle direkt oder indirekt betreffen könnte. Immer wieder werden wir durch die Medien mit Berichten von vernachlässigten Kindern oder Verzweiflungstaten konfrontiert und mit der Frage, ob aufmerksame Mitmenschen dies verhindern hätten können.
Die Zuschauer sollten, so Michael Darmanin, das Theater nach der Aufführung nachdenklich verlassen. Und zum Nachdenken gibt es einiges: Wie viel Unterstützung braucht eine Familie mit einem behinderten Kind? Wie genau sollen Pfleger, Bekannte und Verwandte hinsehen? Und nicht zuletzt: Wo beginnt Liebe, und wo hört sie auf?
Es bleibt zu hoffen, dass noch viele Theaterfans mit Englischkenntnissen die Hürde „Tragödie“ überwinden und in die emotionale Achterbahn, auf die sich die English Drama Group mit Keeping Tom Nice gewagt hat, einsteigen.