Österreich eben nicht „zum Vergessen“
GRAZ / DIAGONALE
14/03/16 Vielleicht ist es gar nicht so aufgefallen, weil sich die Besucher so drängten bei den vielen Ur- und Erstaufführungen österreichischer Filme bei der Diagonale, die am Sonntag (13.3.) in Graz zu Ende gegangen ist. Da gab es auch die Reihe „Österreich: zum Vergessen“.
Von Reinhard Kriechbaum
In dieser assoziativ angelegten Filmschau ging es um die Gedankenlücken von Kurt Waldheim, die vor dreißig Jahren so eklatant offenbar wurden und in Österreich zwar in Folge einiges an Geschichtsaufarbeitung, zuerst aber eine reflexhaft-solidarische „Jetzt erst recht“-Bewegung auslösten. Ruth Beckermann, die für ihren Literatur-Spielfilm „Die Geträumten“ den Großen Diagonale-Preis zugesprochen bekam, war schon damals filmend am Werk: „Waldheim oder The Art of Forgetting“ ist ein Work in Progress, das Ruth Beckermann in Graz in einem Werkstattgespräch vorstellte. Sie grub in ihrem eigenen Archiv eigene Aufnahmen aus, die sie eben vor dreißig Jahren bei einer Wahlkampfveranstaltung in Wien gemacht hatte. Die Bilder von damals schockierten sie heute mehr als damals, so Ruth Beckermann. Die Filmstreifen zeigten „die Wut, den Hass und das Elend in den Gesichtern der Menschen, die mehrheitlich der sogenannten Kriegsgeneration angehörten“. Man könne aus den Bildern von damals herauslesen „welche Emotionen gegen andere sich in aufgeheizter Stimmung Luft machen“.
Mit solchen Emotionen hat es damals übrigens auch Elizabeth T. Spira zu tun bekommen, als sie zwei Jahre später für den ORF die Dokumentation „Am Stammtisch“ drehte. In die Reihe „Alltagsgeschichten“ hat sich dieser Film, für den die Filmemacherin dem „Volk“ gar so genau „aufs Maul geschaut“ hat, nie aufgenommen worden. Man bekam beim ORF kalte Füße und hielt den Streifen zurück, bis heute. Nun soll er, so heißt es, Mitte Juni doch noch ausgestrahlt werden. Mit 28jähriger Verspätung!
Zurück in die Diagonale-Gegenwart: Man muss das zeitgeschichtliche Engagement der Ruth Beckermann wohl mitkalkulieren, bevor man bedauert, dass nicht einer der „aktuelleren“ Filme gewürdigt worden ist mit dem Spielfilmpreis. Die Jury hat die politische Wachheit dieser verdienten Filmemacherin wohl mitgewürdigt, auch wenn sie dann ihren dezidierten „L'Art-por-l'art“-Film „Die Geträumten“ würdigte, quasi eine literarische Aufnahmestudio-Fantasie: Es geht um den Briefwechsel zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan, der von den jungen Schauspielern Ankja Plaschg und Laurence Rupp gelesen, mitempfunden, nachempfunden und von der Handkamera hypersensibel eingefangen wird. Zeitgeschichte spielt ja auch da nicht wenig hinein...
Andere Filme wären durchaus infrage gekommen für den Diagonale-Hauptpreis: Etwa „Einer von uns“ von dem jungen Stephan Richter. Kein „Kriminalfilm“, sondern eine akkurate Zustandsbeschreibung eines jungen Lebens, dem ein Schuss aus der Dienstwaffe eines Polizeibeamten den Garaus macht. Keine „kriminelle Karriere“, einfach die falschen Freunde. Deprimierend sind die harten Schnitte zwischen den prall gefüllten Supermarktregalen und der armseligen Lebenswelt der Heranwachsenden, ohne Vorbilder, quasi einbetoniert in der Tristesse hinter den Konsumtempeln.
Freakwert hat „Winwin“ von Daniel Hoesl. Ein ausländischer Investor übernimmt heimische Unternehmen in Serie, eine Ministerin spielt mit, fast alle lassen sich übertölpeln. Es ist eine krasse Satire, die Klischees sagenhaft hoch aufhängt, dicht an dicht. Der junge Filmemacher, der sich dezidiert als Teil eines Non-profit-Teams sieht, balanciert über enormer Fallhöhe, das ist der Reiz dieses Films, der unter Cineasten wie man sah nicht mehrheitsfähig ist.
Nicht nur der Spielfilmpreis, auch der Doku-Hauptpreis bei der Diagonale ist mit 21.000 Euro dotiert. Dieser wurde Sigmund Steiner für „Holz Erde Fleisch“ zugesprochen. Der Filmemacher kommt selbst aus bäuerlichem Umfeld, und wie viele andere junge Leute sah er keinen Sinn darin, den Bauernhof des Vaters weiter zu führen. Den Verhältnissen zwischen Vätern und ihren Söhnen spürte Sigmund Steiner nach: „Ein Film voller Zärtlichkeit, der von Leben und Tod, Herkunft und Zukunft handelt“, befand die Jury.
Schauspielerpreise gibt es natürlich auch: wohlverdient beide, von Ursula Strauss für die Rolle der bis an die Grenzen der Belastbarkeit strapazierten Mutter in „Maikäfer flieg“ und Erwin Steinhauer in dem im Grenzbereich zwischen Dokumentation und Spielfilm angesiedelten Kriegsreporter-Film „Thank You for Bombing“.
Die 1989 in Salzburg geborene Antoinette Zwirchmayr ist – nach eigener Aussage – in die „falsche Familie“ hineingeboren worden, was sie mit Filmen aufarbeitet. Da war schon der aus Geschichten ihres Großvaters destillierte Kurzdokumentarfilm „ Der Zuhälter und seine Trophäen“ 2014 einen Preis wert, und jetzt hat sie mit „Josef – Täterprofil meines Vaters“ den Preis für Innovatives Kino bekommen, eine – so die Jury – „poetisch-verschlüsselte und geheimnisvolle Ästhetik an der Grenze von Dokumentarfilm und bildender Kunst“. Andreas Horvath erhielt für „Helmut Berger, Actor“ den Diagonale-Preis für den besten Doku-Filmschnitt.
Mit einem Rekord von 30.200 Besucherinnen und Besuchern können die neuen Diagonale-Leiter Sebastian Höglinger und Peter Schernhuber zufrieden zurückblicken auf die vergangenen sechs Festival-Tage: Erstaunlich schon, wenn man sich sogar um 23 Uhr noch um Karten raufen muss an der Kinoabendkasse...
Die Diagonale-Preise: www.diagonale.at
Bilder: www.diegetraeumten.at (1); Diagonale (2); stadtkinowien.at (1)
Zu den weiteren Berichten von der Diagonale 2016:
Pulverland ist abgebrannt
Zweierlei grandioses Kopftheater
Mit dem Teufel im gleichen Boot