Giulietta: die Trug-Essenz aller Geliebten
REST DER WELT / BREGENZ / HOFFMANNS ERZÄHLUNGEN
24/07/15 Eine Unsitte ist es, wenn ein Regisseur meint, er müsse im Programmheft die Inhaltsangabe „seines“ Stücks schreiben. Das, was auf der Bühne passiert, sollte der Zuschauer gemäß Libretto doch Interpretation der Handlung verstehen, auch ohne Lektüre (das Bregenzer Programmheft ist zugegebenermaßen dünn).
Von Oliver Schneider
Mit Jacques Offenbachs unvollendet gebliebener Oper präsentiert sich Stefan Herheim einen Tag nach der Eröffnungspremiere auf der Seebühne („Turandot“) erstmals bei den Bregenzer Festspielen.
Wenn man an Hoffmanns Erzählungen denkt, kommen einem sofort die für das zugrundeliegende Schauspiel von Jules Barbier und Michel Carré als Ideenlieferanten genutzten Erzählungen des deutschen Romantikers E. T. A. Hoffmann in den Sinn. Auch Autobiographisches über den Dichter, der Alkoholiker gewesen sein soll, dann die Parallelen zwischen Hoffmann und Faust. Freilich auch ein antiquiertes Frauenbild, mit dem man heute seine liebe Not hat.
Aber alles das interessiert Stefan Herheim und seine Crew im Bregenzer Festspielhaus nicht. Hoffmann ist bei ihm eine Persönlichkeit, die im Laufe des dreieinhalbstündigen Abends durch seine Sehnsucht nach Liebe und Ablenkung immer mehr ihre eigene Identität verliert und sich mit anderen Identitäten vermischt. Damit sieht Herheim ihn als Abbild unserer Gesellschaft, weshalb das gesamte Ensemble zum Schluss des komplett neu zusammengesetzten Giulietta-Aktes an der Rampe singt.
Damit liegt die Bregenzer Produktion wiederum gar nicht weit weg von den Intentionen Offenbachs und seines Librettisten Barbier, denn auch in der „Urfassung“ ist Hoffmann die Projektionsfigur, auf und in der sich die Sehnsüchte und Absurditäten der Gesellschaft der letzten Hälfte des 19. Jahrhunderts versammeln.
Auch musikalische Einwände gegen die von Dirigent Johannes Debus, Herheim und Dramaturg Olaf A. Schmitt erstellte Grand Opéra-Fassung mit gesungenen Rezitativen, die sie aufgrund der Werkausgabe von Michael Kaye und Jean-Christophe Keck erarbeitet haben, lassen sich vom Tisch wischen, denn der aufmerksame Gesellschaftskritiker Offenbach zeigt sich in „Hoffmanns Erzählungen“ als Meister der musikalischen Persiflage.
Herheim wendet das Modell „Theater im Theater“ an und lässt den Abend in einem Revuetheater mit einer großen, die gesamte Bühne ausfüllenden Treppe beginnen und enden (Bühne: Christof Hetzer, Kostüme: Esther Bialas). Stellas großer Auftritt misslingt. Im silbernen Abendkleid stolpert sie auf der steilen Stiege und kugelt herunter. Das Singen will auch nicht mehr klappen. Herheim macht die Nummer zusätzlich zur Transvestieshow, denn Stella ist der Schauspieler Pär (Pelle) Karlsson. Beim Chor tragen die Damen Herrenkostüme und umgekehrt (ausgezeichnet der Prager Philharmonische Chor, einstudiert von Lukáš Kovaćić). Die Muse/Nicklausse (klar und raumfüllend Rachel Frenkel) ist in diesem Moment als Alter Ego Stellas gezeichnet. Ein Buh aus der zweiten Reihe links gehört zur Show: Es ist Lindorf, der sich aufregt.
Weiter geht's mit Bildern aus dem Herheim-Füllhorn. Monsieur Offenbach darf oder muss sich den Abend auch anschauen bzw. darf als Andrès, Cochenille und Frantz mitspielen (darstellerisch wirkungsstark Christophe Mortagne). Den Pitichinaccio im vierten Akt hat man gestrichen, ebenso wie übrigens Hoffmanns Konkurrent bei Giulietta, Schlémil, was in der gewählten Fassung konsequent ist.
Für Lutters Weinstube öffnet sich die Treppe in der Mitte, die Rolle des Wirts ist dem Bösewicht – Michael Volle debütiert in der Rolle – zugeschlagen. Die Studenten sieht Herheim als tanzende und singende Hoffmann-Klone. Während des Kleinzack-Liedes schließt sich leider für kurze Zeit der Vorhang wegen technischer Probleme. Das wird Daniel Johansson, der insgesamt eine solide stimmliche Leistung erbringt, irritiert haben, der im Laufe des Abends immer mal wieder zum Genderwechsel gefordert wird. Auch der Bösewicht und die Protagonisten switchen zwischen den Geschlechtern.
Im Olympia-Akt sind Hoffmann und Olympia (elegant und koloratursicher Kerstin Avemo) auch wieder vervielfacht, was der Zirkusnummer ein bisschen den Effekt nimmt. Projizierte Zahnräder zeigen, dass es hier um Puppen geht. Und natürlich muss Herheim bildlich darauf hinweisen, dass Liebe für seinen Hoffmann nur Sex bedeutet (Video: fettFilm). Am Ende des Aktes zerstört Coppélius wegen des kleinen Betrugs des schlitzohrigen Pseudo-Wissenschaftlers Spalanzani (Bengt-Ola Morgny) nicht den Automaten Olympia, sondern eine Hoffmann-Puppe, während der Trans-Hoffmann im Rollstuhl sitzen bleibt.
Musikalisch am dichtesten gelingt der Antonia-Akt, wozu Mandy Fredrich als zum Singen verführte junge Frau den Großteil beiträgt. Sie punktet mit der fülligen und leuchtenden Höhe ihres angenehm timbrierten Soprans.
Im Giulietta-Akt wird die namengebende Protagonistin gestrichen, was die bei Offenbach vorgesehene Rückkehr in Lutters Weinstube überflüssig macht. Giulietta ist nur noch eine Projektion der vorherigen Angebeteten, die von Olympia, Antonia und der Muse dargestellt wird. Quasi der Gipfel der Täuschung. Offenbach steuert zu Beginn die Gondel mit Antonias Sarg durch Venedigs Kanäle, wozu die bereits in den Rheinnixen verwendete Bacarolle erklingt. Umringt von Giuliettas kann sich Hoffmann schließlich nur erstechen, als er seine Täuschungen erkennt. Wonach er dann schließlich im Sarg von Monsieur Offenbach durch Venedigs Wasserwelt gefahren wird.
Herheim bietet in Bregenz wieder alles: viele gute Ideen, die sehr musikalisch umgesetzt sind, aber wohl auch wieder zu viele für ein einmaliges Sehen. Und natürlich gute Unterhaltung, was gerade in Bregenz dazugehört. Die Mehrheit des Publikums hat ihn und sein Team gefeiert.
Ebenso war es bei Johannes Debus und den Wiener Symphonikern, die für einen mitreißenden Melodienbogen im Festspielhaus mit seiner trockenen Akustik sorgten und sich in guter Verfassung präsentierten. Das Protagonisten-Ensemble ist insgesamt betrachtet homogen und kommt gut ohne Stars aus. Die Ausnahme bildet Michael Volle, der mit der Bandbreite seines Ausdrucks und seinem mächtigen Stimmvolumen heraussticht.
Weitere Vorstellungen am 26. und 30. Juli sowie am 3. und 6. August – www.bregenzerfestspiele.com
Es ist eine Koproduktion mit der Oper Köln und Det Kongelige Teater Kopenhagen
Bilder: Bregenzer Festspiele / Karl Forster