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Waren wir denn dumm, dass wir uns schlachten ließen?

REST DER WELT / GRAZ / THALERHOF

01/10/13 Das muss einem erst einmal einfallen: Da haben sich Gefallene des Ersten Weltkriegs gut sechshundert Kilometer durch die Erde gebuddelt, von der ehemaligen Galizischen Ostfront (Ostpolen, Ukraine) nach Graz. Dort tauchen diese Zombies der Zeitgeschichte auf dem Flughafen auf.

Von Reinhard Kriechbaum

092Dort graben sie sich zwischen gläsernen Gängen aus der heimatlichen Scholle und machen im Gleichschritt Randale: ein wacker-jämmerliches Grüppchen Kaisertreuer, die von den heutigen Passagieren aus gutem Grund scheel angeschaut werden. Gesindel aus dem Osten, mutmaßen einige. Und was ist nun mit dem alten Kaiser? Der kommt auch daher, im Rollstuhl – und endlich sagt er seinen untoten Getreuen, was Sache ist: Die Monarchie ist begraben wie er selbst und sie. Nicht mehr nötig zu sterben. Alles schon in die Erde versenkt, endgültig...

Der polnische Dramatiker Andrzej Stasiuk (Jahrgang 1960) lebt in einem Karpatendorf in Südostpolen. Dort wird man dauernd mit der Nase auf die gefallenen Helden gestoßen: 400 Soldatenfriedhöfe soll es in der Region geben. Die Gegend war schließlich einer der Hotspots im Ersten Weltkrieg. Tschechische, bosnische, jüdische Namen findet man auf den Kreuzen und Gedenktafeln – ein Spiegel des österreichischen Vielvölkerstaates. Fernab ihrer Heimaten haben sie gekämpft, sich töten lassen fürs "Vaterland". Für Ideale, die hundert Jahre später weder als Staatswesen noch als politische Ideologien auch nur einen Funken Relevanz haben.

091Andrzej Stasiuk ist ein begnadeter Satiriker und Surrealist. Einen "Reisenden" (Jan Thümer) bringt er quasi als sein Alter Ego auf die Bühne, einen Wanderer durch die Zeitläufte. Einen, der die Gegenwart beobachtet und mit den Toten von vorvorgestern intensiv Zwiesprache hält. Wie die Maulwürfe bohren sie sich aus der Erde: der Soldat Jusuf aus Mostar, der Jude Mendel als einer von der Gegenseite, der Russe Afanasij. Wie das weiter gegangen ist mit "ihrer" Sache, mit "ihrem" Krieg, das täten diese Halloween-Geister der Historie allzu gerne wissen, vom Reisenden und von den anderen Nachgeborenen, die zu Allerheiligen beflissen Grabblumen gießen. Darf man ihnen die Wahrheit sagen, soll man die hehren Helden so desillusionieren?

Ein Anliegen ist Stasiuk auch das Schicksal der lokalen Bevölkerung, der Ruthenen. Die sind nicht nur bei uns im Geschichtsunterricht unter den Tisch gefallen. Die karpato-ukrainischen Bergvölkchen (Bojen, Huzulen und wie sie alle hießen) – orthodoxe Slawen in katholischen Staatswesen – waren allen verdächtig: den notorisch frömmelnden Polen nicht weniger als den österreichischen Monarchie-Hütern, die über die westliche Orientierung Galiziens zu wachen hatten. Man konnte wenig anfangen mit den Ruthenen, die sich viel lieber im Reich des Zaren gesehen hätten.

Als der Erste Weltkrieg ausbrach, wurden Ruthenen zu Tausenden aus dem Kriegsgebiet deportiert, eine Art realpolitische Vorsichtsmaßnahme. Und genau das ist der geographische Link in Andrzej Stasiuks Zeitgeschichte-Stück: Rund 7000 Ruthenen waren eine Zeitlang in einem Lager nahe des heutigen Flughafens Graz/Thalerhof interniert. Exakt 1767 von ihnen sind umgekommen, die meisten durch Hunger und Typhus. Nichts als ein Kollateralschaden im Ersten Weltkrieg, bis heute wenig beachtet.

090Knochentrockene Geschichte? Keine Spur. Stasiuk ist ein toller Erzähler. Er schwingt nicht die Moralkeule, sondern setzt auf bizarre Situationskomik – wobei ihm die Regisseurin Anna Badora effizient zuarbeitet. Indem man ganz unprätentiös von Einzelschicksalen erzählt, gelingt es, die Ungeheuerlichkeit der Kriegssituation zu suggerieren. Und noch im plakativsten Getümmel wird der Einzelne nicht ausgeblendet.

Da ist etwa Maxym Sandowicz, ein ruthenischer orthodoxer Geistlicher, der ein wenig zu dezidiert vom Zaren geschwärmt hat. Er wurde damals hingerichtet, gilt jetzt als Märtyrer und genießt heiligmäßige Verehrung. Für die Grazer Uraufführung von "Thalerhof" castete man Kinder, und – der Zufall spielte mit – ein in Graz lebendes polnisches Mädchen stellte sich als Enkelin gerade jenes "Heiligen" Maxym Sandowicz heraus. So klein ist Zentraleuropa – und so nahe kann Realität dem Theater sein.

Regisseurin Anna Badora (die Grazer Schauspielchefin stammt wie der Autor aus Polen) hält Szene um Szene diesen Gegenwartsbezug lebendig. Und sie hält die Perspektive im Auge: "Hinter dem Stacheldraht", das ist in dieser Geschichts-Sicht aus den Karpaten eben nicht der böse Osten, sondern das Zentrum der K.-u.-k.-Monarchie.

Die Spielfläche ist ein Relief aus Schützengräben, aus denen die aschgrauen Soldatengeister hervor klettern. In schlichten weißen Gewändern steht die ruthenische Dorfbevölkerung da, angreifbar, verletzlich – die sprichwörtlichen Bauernopfer in einem Krieg um verquere staatspolitische Großinteressen: "Waren wir denn dumm, dass wir uns schlachten ließen?" Einer der Soldaten spricht die große Frage gelassen aus, ungläubig nachgerade. Aber auch der gläubige Maxym muss einsehen, dass er von seinem Gott verlassen wurde. Denn auch er taucht auf in der großen, surrealistischen Flughafenszene am Ende. "Last call für Maxym", tönt die Ansage, aber es steht kein (Höhen-)Flug bevor: "Ab in die Grube" heißt es auch für den Heiligen, der "die Namen seiner Gemeinde vergessen" hat.

Aufführungen bis 9. November – www.theater-graz.com
Bilder: Schauspielhaus Graz / Lupi Spuma

 

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