Bis zum Hals im Wasser
REST DER WELT / WIENER STAATSOPER / PELLÉAS ET MÉLISANDE
19/06/17 Marco Arturo Marelli hat Claude Debussys symbolistisches, lyrisches Drama auf den Boden der Realität gestellt. Zum Glück haben Alain Altinoglu und die Wiener Philharmoniker einen Teil des Geheimnisvollen gerettet.
Von Oliver Schneider
„Pelléas et Mélisande“ ist ein Solitär in der Operngeschichte, „nach Wagner“, auf den man sich einlassen muss. Entsprechend selten wird das Werk aufgeführt. An der Staatsoper zuletzt 1991, im Theater an der Wien immerhin 2009 in einer scheinbar realistischen Inszenierung von Laurent Pelly. Golaud findet Mélisande im Wald und führt sie als seine Frau auf Schloss Allemonde. Doch die junge Frau fühlt sich mehr zu Golauds jüngerem Halbbruder Pelléas hingezogen, den Golaud schließlich aus Eifersucht tötet. Aber obwohl sich die beiden jungen Menschen ihre Liebe gestehen, bleibt in der Schwebe, ob sie sich wirklich lieben. Wie vieles andere auch ungesagt bleibt, typisch symbolistisch eben. Wer ist Mélisande überhaupt und woher kommt sie? Ist sie Golauds zweite Frau? Wie kam diese ums Leben? Debussy deutet den durch „Tristan und Isolde“ besetzten Begriff „Musikdrama“ um, indem er der nur angedeuteten Handlung im Libretto von Maurice Maeterlinck musikalisch eine weitere Ebene hinzufügte und nicht einfach den Text vertonte.
Marco Arturo Marelli hat sich bereits 2004 in Berlin mit dem Werk beschäftigt und nun sein Regiekonzept für die Staatsoper weiterentwickelt. Schloss Allemonde, was so viel wie „Allerorten“ heißt, ist ein trostloser Bunker, in dem die Vier-Generationen-Familie lebt: Großvater Arkel, Geneviève mit ihrem zweiten, schwerkranken Mann, Pelléas‘ Vater und Golauds Stiefvater, sowie Golauds Sohn Yniold aus dessen erster Ehe. Vielleicht als Kontrast zur Musik und zum Text gibt Marelli in seiner Deutung handfeste, realistische Antworten zum Geschehen, nimmt dem Werk damit aber auch seinen Zauber.
In der Personenführung mag der Ansatz noch passen, aber zusätzliches Personal und eine Verdopplung von Musik und Szene zerstören schlicht die Lebensfreude erstickende Atmosphäre. Wenn Golaud Pelléas in die finstere unterirdische Grotte führt, um ihn vor weiteren Avancen bei Mélisande zu warnen, sind Golauds bedrohlich anschwellende Stimme und die brodelnde Begleitung bereits so deutlich, dass man ihm nicht noch bewaffnete Gesellen zur Seite stellen muss.
Schloss Allemonde liegt am Wasser, und dessen Vielfalt an symbolischen Bedeutungen nutzt Marelli: In einem großen Becken wird mal geplanscht, mal muss der arme Pelléas bis zur Schulter baden, um Mélisande in ihrem Boot zu ziehen. Völlig ausreichend ist hingegen, wenn sich das Wasser auf den grauen Wänden spiegelt und eine zauberhafte Stimmung vermittelt.
Stimmig ist die an Tristan und Isolde erinnernde zentrale erste Szene des dritten Akts – Pelléas nimmt Abschied von Mélisande –, wenn Mélisande, auf dem umgedrehten Boot liegend, ihre langen Haare herunterhängen lässt und sie sich gemeinsam mit Pelléas ihren (unerfüllbaren) Träumen hingibt. Bis Golaud die beiden entdeckt und sie wegen ihrer „Kindereien“ tadelt. Im Schlussbild wird die im Kindbett verstorbene Mélisande schließlich von Ebenbildern im Ruderboot an den Bühnenhorizont gefahren. Mélisande ist für Marelli also nur eine von vielen Frauen Golauds, auf die unweigerlich weitere folgen werden, gleich Bartóks Judith.
Letztlich überzeugender ist der musikalische Teil: Alain Altinoglu hat viel Erfahrung mit Debussys Werk; letzten Frühsommer dirigierte er eine Neuproduktion von Dimitri Tcherniakov in Zürich. Altinoglu weiß über diese wellenartigen Klangräume einen Spannungsbogen zu spannen. Auch die vorhandenen, feinen dynamischen Schattierungen treten hervor. Das Staatsopernorchester folgt Altinoglu gerne konzentriert und flicht einen filigranen Klangteppich.
Simon Keenlyside, der in Vergangenheit selbst ein kongenialer Pelléas war, ist mittlerweile zum eine Terz tiefer liegenden, von Eifersucht getriebenen Golaud gereift. Er besitzt auch eine sehr gute französische Diktion, was für Debussys Deklamationsstil zentral ist. Oder besser wäre, denn so delikat und zerbrechlich Olga Bezsmertna die Partie der Mélisande singt, für eine wirkliche Gestaltung muss sie noch an der Textverständlichkeit arbeiten. Rollendebütant – wie Bezsmertna – ist Adrian Eröd. Als Pelléas ist er typenmässig und stimmlich ein perfekter Gegensatz zu Keenlyside. Ein junger, noch etwas blutarmer Mann, von dem sich die feine Mélisande naturgemäß mehr angezogen fühlen muss als vom temperamentvollen Golaud. Den greisen Arkel gibt der verlässliche Franz-Josef Selig, Bernarda Fink – erstmalig im Haus am Ring zu hören – ist eine Ruhe vermittelnde Geneviève. Maria Nazarova ein quirliger Yniold.