Die unmögliche Liebe nur beinahe geschafft

GRAZ / KLEIST / STREERUWITZ

15/02/23 Teichoskopie, ein Wort für Bildungsprotzer. Kommt aus dem Griechischen und heißt „Mauerschau“. Beobachter berichten, was sie gerade irgendwo da draußen wahrnehmen. Das ist praktisch, weil man sich so – wir sind bei Kleist und Penthesilea – viel Gemetzel auf der Bühne erspart.

Von Reinhard Kriechbaum

Penthesilea ist über weite Strecken ein Wort und Bild sprudelnder Live-Ticker aus dem Geschehen vor den Mauern Trojas. Auch die 2014 veröffentlichte Erzählung Der Abend nach dem Begräbnis der besten Freundin von Marlene Streeruwitz hat etwas von Teichoskopie. Nicht ganz so live. Ein paar Stunden immerhin ist's her, dass Elisabeth/Lilli unter der Erde ist. Aber die Erinnerung ist so gegenwärtig wie nur, nicht nur ans Begräbnis. Es war eine eigenwillige Frauenfreundschaft. Lilli führte ein Doppelleben. Die „unauffällige“, weil der gesellschaftlichen Norm scheinbar perfekt angepasste Ehefrau und Mutter pflegte ausgiebig Männerbeziehungen. Die andere Frau (sie bleibt namenlos) hat Lilli stets zu den Alibis verholfen. Offiziell war sie es, mit der Lilli die Abende verbracht oder übers Wochenende Kunstreisen unternommen hatte.

Wo treffen sich die beiden Frauenfiguren, die Regisseur Franz-Xaver Mayr im Grazer Schauspielhaus zueinander führt? „Sie sank, weil sie zu stolz und kräftig blühte“, heißt es bei Kleist über die Amazonenkönigin, die sich regelwidrig verliebt in Achilles und sich letztlich psychisch verheddert zwischen dem eigenen Willen und jenen Konventionen, die doch wie ein fesselndes Netz ihr eigenes Denken durchziehen. Die Krebserkrankung von Streeruwitz' Lilli mag psychosomatischer Natur gewesen sein, vielleicht aus ganz ähnlichen Gründen.

Mit Frank Sinatras „I did it my way“ geht’s los. Da hakt die Erzählerin ein und sinniert, wem in der Familie warum wohl gerade dieser Gassenhauer eingefallen ist als Lied zur Verabschiedung von Lilli – weiß doch sie, die Freundin, allein ums Schattige dieser Existenz. In einem über und über mit Papierrosen besetzten Kleid steht sie da, Anspielung auf das Rosenfest, die kriegerische Beischlaf-Orgie der Amazonen.

Franz-Xaver Mayr entfaltet im Schulterschluss mit dem Ausstatter Korbinian Schmidt ein hoch stilisiertes Ensemble-Spiel. Fünf Frauen, fünf Männer stecken in Kostümen, die Elemente von Männer- und Frauenkleidung aufgreifen. Umhänge gewechselt, und schon mutieren die Geschlechter, werden aus Amazonen griechische Recken und umgekehrt. Die Gesichter sind maskenartig geschminkt, die identen Frisuren kunstvoll wellig hochgesteckt und in lange Pferdeschwänze auslaufend. Die zehn Unisex-Allegorien aus Papier, Stoff und Plastik definieren die Gruppen und lassen zugleich genaue Identitätszuschreibungen zu. Auch wenn die Darstellerinnen und Darsteller Geschlechter und Rollen oft wechseln, wenn Sätze gesplittet oder chorisch gesprochen werden, sind die Handelnden gut kenntlich und ihre Charaktere anschaulich herausgearbeitet.

Meist wird ja – Stichwort Teichoskopie – vom dramatischen Gesehenen aus zweiter Hand berichtet. Ironisch zugespitzt sind die Szenen, in denen sich der liebes-verblendete Achilles im Kreis der wackeren Kriegsrecken so recht unverstanden und lächerlich fühlen darf. Aber auch die Amazonen gehen mit ihrer Königin nicht ganz zimperlich um.

Eine entscheidende Szene ist die Begegnung zwischen den Liebenden. Da ist die Figur gesplittet, gleich drei Achills werden von vier Penthesileen umworben, und das gibt ein ganz wunderbar abschattiertes Gesamtbild von unvereinbaren und doch im Grunde auf beiden Seiten ähnlich gelagerten Gefühlen.

Zwei Mal wird der in ansehnlichem Tempo, aber sprechtechnisch bemerkenswert präzis artikulierte Penthesilea-Wortfluss für weitere Streeruwitz-Einschübe (auch wieder verschiedenen Leuten anvertraut) unterbrochen. Mit Augenmaß, nicht so umfangreich wie die eröffnende Suada, inhaltlich jedenfalls überlegt eingeklinkt. Das Ende gehört der Streeruwitz, die in Lillis und der erzählenden Freundin Leben „keine Chance auf etwas Bedeutendes“ ortet und resignierend schließt: „Ich werde gemeinsam mit mir sterben und es wird nicht großartig sein.“

Das Fast-Nichts an Bühnenbild arbeitet dem Ensemble-Konzept dieser Aufführung unmittelbar zu Ein Guckkasten-Rahmen. Im sanft ansteigendem Boden ist ein Klavier halb versunken. Das Schlagzeug ist fahrbar hinter der Bodenkante positioniert. Die beiden Musikerinnen tragen viel zur Stimmung bei, gerade, weil sie sich akustisch nicht in den Vordergrund drängen. Sie gehören einfach dazu, und das Ensemble kann zu ihren Rhythmen schon mal Kleist im Rap vortragen. Die Beleuchtung scheut nicht zurück von popigen Akzenten und wirkt doch subtil.

Kleist und Streeruwitz gehen in diesem Bühnen-Gesamtkunstwerk jedenfalls formidabel zusammen. Das Wesentliche: Die Aufführung liefert keine plakativen feministischen Deutungen. Hier Penthesilea und Achill, die tragischerweise auf dem Schlachtfeld, also offenkundig scheitern. Dort Lilli, die ihre Wünsche in einem verborgenen Lebensplan umgesetzt hat. Alle drei haben entschlossen gehandelt, die „unmögliche“ Liebe aber nur beinahe geschafft.

Aufführungen bis 15. März – www.schauspielhaus-graz.at
Bilder: Schauspielhaus Graz / Ruiz-Cruz