Meerjungfrau gestrandet

BUCHBESPRECHUNG / RAURISER LITERATURPREIS / GRUBER

07/02/24 Der Ichthyostega war das erste Lebewesen, das sich vor Millionen von Jahren an Land gewagt hat. „Einer kommt zur Welt und ist anders als alle anderen“, sagt die vierzehnjährige Arielle. „Und dann ist er ganz allein da draußen.“ Genauso fühlt sich die Protagonistin... Matthias Gruber erhält den Rauriser Literaturpreis 2024 für seinen Debütroman Die Einsamkeit der ersten ihrer Art. – Lesen Sie hier die dpk-Rezension.

Von Christina König

Sie schneidet Frauenlächeln aus Modemagazinen aus und hält sie sich vor den Mund, sie bekommt Perücken aufgesetzt und stopft sich bei Hitze nasse Papiertaschentücher unter die Kleidung: Arielle hat einen Gendefekt, kaum Haare, wenig Zähne und kann nicht schwitzen. Das lässt sie auch nie jemand vergessen. Fremde Leute fragen, was nicht mit ihr stimmt, ihr Lehrer stellt sie wegen ihres Nuschelns bloß und sogar ihre beste Freundin schneidet sie aus Fotos raus. Am liebsten möchte Arielle untertauchen und nicht mehr hochkommen: „Ich wollte hier bleiben, am Beckengrund, wo alles Stille war und erleuchtet in reinem Blau.“

Ihre Tage verbringt Arielle mit ihrer Mutter, die stets Handschuhe trägt, um die Ekzeme an den Handgelenken zu verbergen, und das Klo putzt, während sie Videos über den faszinierenden Verjüngungseffekt einer Peelingmaske schaut, und mit ihrem Vater, dem sie hilft, Wohnungen von Verstorbenen auszuräumen. Während er Visualisierungs-CDs hört und darauf hofft, auf alten Festplatten Kryptogeld zu finden, entdeckt Arielle das alte Handy eines Mädchens namens Pauline. Pauline ist alles, was sie nicht ist: schön, fotogen, glücklich, normal. Arielle stiehlt die Fotos und erstellt einen eigenen Social-Media-Kanal damit, der sofort beliebt wird. Auch Arielles Mutter erkennt die Vorteile des Kanals und benutzt ihn, um zur „Frischebotschafterin“ eines Naturkosmetikunternehmens aufzusteigen. Arielle ist das nicht so wichtig: „Es ging darum, dass Pauline die Dinge besser machte. Und dass sie von nun an zu mir gehörte. Und ich zu ihr.“

Und eine Weile geht auch alles besser. Bis die echte Pauline den Kanal entdeckt.

Einfühlsam und ohne Pathos erzählt Matthias Gruber in seinem Debütroman von einem Mädchen, das anders ist als die anderen. Nicht zufällig spielt ein großer Teil des Romans auf einer Mülldeponie, dort, wo Menschen wie Arielle am Rand der Gesellschaft leben. Aber je länger man liest, desto mehr fragt man sich, ob sie und ihre Familie wirklich die einzigen Außenseiterinnen ihres Umfelds sind. Der Roman ist voller Ausgrenzungen: die Männer auf der Mülldeponie, die eine (falsche) Österreich-Fahne hissen, um Rumänen zu verscheuchen, die aber selbst keinen Platz in der Gesellschaft haben; Arielles schwuler Freund, der sich für eine Kunstschule in Berlin bewirbt und dessen Vater ihn zwingen will, beim Angeln Fische zu töten wie ein echter Mann; ihre beste Freundin, die alles richtig machen will und sich daher nicht mit einem Jungen trifft, den sie im echten Leben kennenlernt, weil sie nicht weiß, wie viel Übereinstimmung sie auf der Dating-App gehabt hätten – und die für ihre erste App-Bekanntschaft einen hohen Preis zahlt.

Was heißt es, anders zu sein? Sind nicht in Wahrheit alle einsam? Arielle jedenfalls ahnt am Ende, wo sie hingehört. Nicht umsonst trägt sie ihren Namen: So sehr sie an Land leben möchte, eine Meerjungfrau gehört ins Wasser. Das Ende liest sich wie Befreiung – oder wie ein Drama. Das muss jeder und jede für sich selbst entscheiden. Vieles bleibt ungesagt, manche menschliche Katastrophe nur angedeutet. Das ist eine der großen Stärken des Romans: die Abgründe hinter einer schlichten Sprache zu verbergen, die zur Welt einer Jugendlichen passt, ohne sich an sie anzubiedern. Die subtile Düsternis bleibt lange im Gedächtnis.

Matthias Gruber: Die Einsamkeit der Ersten ihrer Art. Jung und Jung Verlag, Salzburg 2023. 304 Seiten, 23 Euro – jungundjung.at 
Matthias Gruber erhält fürDie Einsamkeit der Ersten ihrer Art“ den Rauriser Literaturpreis 2024. Dieser wird seit 1972 für die beste Prosa-Erstveröffentlichung in deutscher Sprache vergeben und ist mit 10.000 Euro dotiert. Die Verleihung findet am 3. April im Rahmen der Eröffnung der Rauriser Literaturtage statt – hwww.rauriser-literaturtage.at
Zuvor liest Gruber heute Dienstag (7.2.) im Literaturhaus Innsbruck, am 17. Februar in der Wasnerin in Bad Aussee oder am 22. Februar im Haus der Musik in St. Johann im Pongau, dazu gibt es zahlreiche Termine in Deutschland  – jungundjung.at
Das Programm der Rauriser Literaturtage 2024
Literaturtage „wie früher“
Die Preise heuer
Das Leben und was es sein kann