Alle Menschen haben Geheimnisse

BUCHBESPRECHUNG / THOMAS OLÁH / DOPPLER

22/12/23 „Das Haupt zu bedecken, das gehört sich so, und alle halten sich daran, auch die Männer im Dorf gehen nie barhäuptig draußen, auf der Gasse. Das hilft, einen Rest von Form der Welt entgegenzustellen, die anderwo längst aus den Fugen ist.“ Nicht nur anderswo. Im Kellergassen-Idyll dräut die Vergangenheit. Und der Enkel mittendrin. Zumindest einen Sommer lang.

Von Heidemarie Klabacher

Autounfall. Was ist mit den Eltern? Dem Bruder. Auch darüber wird nicht geredet werden. Der Bub ist mit Gehirnerschütterung davon gekommen. Was ein Besuch bei den Großeltern in Frankenhayn hätte werden sollen, wird für ihn zum Exil: „Mein Sommer ist das nicht, ich habe das nicht gewollt.“ Was folgt ist kein „Roman“, viel mehr eine lose Folge von Ereignissen, Beobachtungen, Schilderungen in schrägen Kurven und Mäandern. In deren Zentrum stehen die Großeltern, die so nicht genannt werden: „Sie werden stets nur Vater und Mutter gerufen, auch von den Enkelkindern. Ein verniedlichendes Opa oder Großmutti wäre keinem auch nur im Scherz eingefallen.“

Wir sind also mit dem jungen Ich-Erzähler gestrandet. Im Niederösterreichischen. „Auf der anderen Seite des Berges, am Endes des Waldes, rechts in die weite Ebene und dannn einfach immer weiter nördlich, bis man ansteht an der Grenze. Dort sollte er sein, der Eiserne Vorhang.“ Das datiert für uns heutige die Erzählzeit in die Siebziger. Ein Schwindel war es trotzdem: „Natürlich gibt es keinen Vorhang. Bloß einen Zaun aus großen Drahtrechtecken, länglich verknotet, dann einen Streifen Wiese, dahinter noch einen Zaun. … Und ein Wachturm mit zwei silber glänzenden Schweinwerferschüsseln. Schatten bewegen sich gelegenlich hinter den Fenstern.“ Der Exil-Enkel und seine etwa gleichaltrigen, vom Vater, „dem grausamen Onkel“, misshandelten Cousins, haben sich miteinander abgefunden, wenn auch nicht miteinander angefreundet.

Einen Fluchttunnel graben, hinaus aus Frankenhayn, war eine der ersten gemeinsamen Aktionen, leider hat der Regen die Baustelle überschwemmt, man sitzt immer noch fest. Der Besichtigung des Eisenen Vorhangs gegen Ende des Romans, folgt der Aufstieg auf einen Hügel und der Abstieg in eine kleine Höhle. In der Nähe war „vom Amt“ gegraben und eine „ganz kleine nackte Frau aus Stein mit sehr großen Brüsten“ gefunden worden. Das hilft bei der Lokalisierung des Orts der Handlung, die alsbald endgültig aus dem Ruder laufen wird. Zuvor finden die Cousins, alle drei Enkel ihrer „Mutter“, in ihrer Höhle eine Nazi-Klinge. Der Leser und die Leserin wissen zu diesem Zeitpunkt leider schon, was Mutter, die damals noch eine junge Frau war, damit getan hat.

Frankenhayn. Weinbaugemeinde. Wasser steht in zweifelhaftem Ruf: „Es soll Leute geben, die gern Wasser trinken. Wahrscheinlich, weil sie keinen Wein kennem. Aber was es nich geben dürfte, sind Leute, die Wasser in ihren Wein schütten.“ Die familiären und zeitgeschichtlichen Ereignisse und Tragödien und erzählt Thomas Oláh in einer simplen lakonischen Sprache, die das Bizarre umso bizarrer wirken lässt. Geradezu poetisch-mystisch sind die Wasser-Wein-Metaphern, die die Arbeit des Weinbauern und des Dorfpfarrers miteinander innigst in Beziehung setzten. Die verdrängten Erinnerungen an die Ereignisse der letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs im Grenzgebiet sind nicht nicht einmal die Schlimmsten.

Das Buch ist keine Eulenspiegelei, auch wenn ein sturköpfiger Wirt sein Grab im Sarg stehend auffsucht. Thomas Oláh schreibt auch keinen „Nachkriegsroman“. Dazu ist das Ganze dann doch ein wenig flapsig gehalten. Aber die Zeitgeschichte grundiert bedrohtlich die Familiengeschichte. Das Lakonische, Episodische hat großen sprachlichen Reiz. Das scheinbar Bizarre (niemals wirklich Komische) vertieft die Abgründe unter erstarrten Traditionen und Ritualen.

Und der Titel? „Doppler“ meint vor allem, aber nicht allein, den Doppel-Liter. Maß aller Dinge in Frankenhayn. Aber auch „unser“ Salzburger Christian Doppler hat seinen Auftritt. Ebenso der „große Metronom“ Johann Nepomuk Mälzel. Und Siegmund Freud. Die beiden ersteren haben jeweils einen anderen um ihren gebührenden Anteil am Nachruhm gebracht. Diese Episoden sind kursiv gesetzt. Die Pendeluhr im großelterlichen Schlafzimmer und Mälzel. Der doppeldeutige Name „Doppler“. Und, im Falle von Siegmund Freud der Krieg, lassen Beziehungen der Kursiv-Episoden zu Frankenhayn immerhin mit etwas Findigkeit herstellen. Dass die insgesamt drei Figuren der Freud-Episode die gleiche Brille tragen und die Brille vom Cover den Beginn dieser Episide markiert, ist, wiewohl ziemlich gewollt wirkend, eine nette Volte. Sonst ist in dem reizvoll verqueren Buch nur wenig „nett“.

Thomas Oláh: Doppler. Roman. Müry Salzmann, Salzburg 2023. 220 Seiten, 24 Euro – www.muerysalzmann.com