Eine Meisterin der Figurenzeichnung

IM PORTRÄT / MARIE NDIAYE

29/07/23 Ein Traditionstermin an der Nebenfront der Festspieleröffnung ist die Überreichung des Österreichischen Staatspreises für Europäische Literatur. Dieses Jahr ging er an die französische Autorin Marie Ndiaye.

„Der Leser bleibt irritiert zurück, blättert nochmals vor zum Anfang, liest einzelne Absätze noch einmal nach – um zu erkennen, dass Marie NDiaye die unübertroffene Meisterin der literarischen Verstörung ist.“ So Staatssekretärin Andrea Mayer über die 1967 geborene Französin, Tochter einer französischen Mutter und eines senegalesischen Vaters. 1985 schickte sie ihr erstes Romanmanuskript Jérôme Lindon, dem Verleger der renommierten Éditions de Minuit. Der Verleger, von ihrem kraftvollen Stil beeindruckt, nahm das Manuskript an. Der Roman erschien unter dem Titel Quant au riche avenir (deutsch: Was die reiche Zukunft betrifft).

Im Auftrag von Radio France schrieb sie 1999 Hilda, was den Beginn ihrer Arbeit als Dramatikerin bedeutete. Seither hat Marie NDiaye noch vier Theaterstücke geschrieben. Das Theaterstück Papa doit manger (Papa muss essen) wurde 2003 an der Comédie-Française uraufgeführt.

So begründet die Jury ihre Entscheidung: Marie NDiaye kann zurecht als Star der französischen Gegenwartsliteratur bezeichnet werden. Ihre Wirkung reicht jedoch weit darüber hinaus. Sie hat Europa wörtlich genommen erfahren, lebte mit ihrer Familie auch viele Jahre in Spanien, Italien, den Niederlanden und Deutschland. Es dürften prägende Aufenthalte gewesen sein, wie man ihren Texten entnehmen kann. Bereits als Teenager veröffentlichte sie 1985 ihren ersten Roman. Seither hat sie eine Fülle an Werken geschaffen, vor allem Prosa, aber auch Dramen, Drehbücher und Essays, die immer wieder bestätigen: Sie gehört längst schon zu den Besten unserer Zeit. Diese Autorin ist stilistisch brillant, eine Meisterin der Figurenzeichnung. Sie schlägt ihr Publikum mit raffinierten Erzählweisen in Bann, lässt immer wieder Abgründe erahnen. Manche ihrer Texte lesen sich wie Horror-Thriller. Entfremdung, familiäre Beklemmungen und entsprechende Ausbruchversuche sind wiederkehrende Motive bei ihr. Aus diversen Blickwinkeln sieht man den Kontinent und beginnt tiefgehende Verschiebungen zu ahnen. In den wunderbaren Büchern dieser Tochter einer Französin und eines Senegalesen spielt Afrika ebenfalls eine kaum zu unterschätzende Rolle. Auch aus dieser Perspektive erschließt sich ihren Leserinnen und Lesern Europa und stellt es in einen größeren Zusammenhang.

Der Österreichische Staatspreis für Europäische Literatur wird seit 1965 für das literarische Gesamtwerk einer europäischen Autorin bzw. eines europäischen Autors verliehen, das international besondere Beachtung gefunden hat, was durch Übersetzungen dokumentiert sein muss. Das Werk muss auch in deutschsprachiger Übersetzung vorliegen. Der Preis ist mit € 25.000 dotiert. Die Preisverleihung erfolgt durch Kunst- und Kulturstaatssekretärin Andrea Mayer traditionell im Rahmen eines Festaktes während der Salzburger Festspiele. Zuletzt ging der Preis an Mircea Cărtărescu, Andrzej Stasiuk, Karl Ove Knausgård, Zadie Smith, Michel Houellebecq, Drago Jančar, László Krasznahorkai und Ali Smith. (BMKOES/dpk-krie)

Bild: Wikimedia / Heike Huslage-Koch