Dr. Hohenadl denkt über Ehrungen nach

SATIRE

14/07/23 Der Brief des Wiener Bürgermeisters kam zwei Wochen nach Dr. Hohenadls fünfundvierzigsten Geburtstag. Dr. Hohenadl war überrascht und brauchte einige Zeit, bis in seinem Innersten ein Gefühl der Freude stärker und stärker wurde. Am liebsten hätte er sofort seine zwei Brüder und seine Cousine Charlotte angerufen. Aber er hielt sich zurück. Er wollte diese Überraschung nicht ausplaudern, weil er fürchtete, ihre Intensität könnte dadurch abnehmen.

Von Werner Thuswaldner

Warum waren die Geburtstagswünsche mit so viel Verspätung gekommen? Vielleicht war der Bürgermeister zu beschäftigt gewesen, vielleicht hielt er sich im Ausland auf. Ungewöhnlich kam Dr. Hohenadl auch vor, dass die Wünsche zum fünfundvierzigsten Geburtstag kamen. Offizielle Ehrungen setzten, so viel er wusste, normalerweise doch erst ab einem Alter von frühestens sechzig Jahren ein. Warum hatte man für ihn eine Ausnahme gemacht? Erlaubte sich jemand einen Jux mit ihm?

War die Unterschrift des Bürgermeisters echt? Sie sah aus wie mit blauer Tinte geschrieben. Dr. Hohenadl schwenkte das Blatt vor seinen Augen, um die Schrift aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten. Zu einem Test mittels Wasser konnte er sich nicht durchringen, weil er das wertvolle Schreiben auf keinen Fall verunstalten wollte.

Dr. Hohenadl las den Brief immer wieder durch, stumm, dann laut, verschiedene Betonungen ausprobierend. Dann ging er an den Brief mit textanalytischer Akribie heran. Zuletzt konnte er das Schreiben vom Anfang bis zum Ende auswendig hersagen:

Sehr geehrter Herr Dr. Hohenadl. Ich möchte es nicht versäumen, Ihnen zu Ihrem Geburtstag im Namen der Stadt Wien die besten Wünsche zu übermitteln.

Die oberste Aufgabe, zu der wir berufen sind, ist für jeden, sein eigenes Leben zu führen. – Genau diesem Leitsatz folgen Sie. Ferner trifft auf Sie zu, was ein berühmter Philosoph gesagt hat:

Altsein ist ein herrlich Ding, wenn man nicht verlernt hat, was anfangen heißt.“ Möge Ihnen dieser Elan noch viele Jahre erhalten bleiben. Dies, damit sich auch der Satz erfüllt, der von demselben Philosophen stammt: „Jeder ist berufen, etwas in der Welt zur Vollendung zu bringen.“

Der Vorbildcharakter, den Sie haben, ist uns bewusst. Sie leisten damit für die Stadt im Hinblick auf die heranwachsenden Generationen einen moralischen Beitrag, der nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Dafür verdienen Sie größte Anerkennung. Die Stadt will es nicht versäumen, Ihnen dafür an Ihrem Ehrentag Dank und Anerkennung auszusprechen.

Dr. Hohenadl ging einen Satz nach dem anderen durch und war verblüfft, wie aufmerksam sich der Bürgermeister in seine Person hineingedacht hatte. Dem gebührte Bewunderung, denn Dr. Hohenadl stellte sich vor, wie gefordert dieser Bürgermeister tagein, tagaus war. Ja, er wird Erkundigungen eingeholt haben, bevor er diese Zeilen niederschrieb oder vielleicht auch nur diktierte, dennoch erstaunte es ihn, wie an oberster Stelle seine Qualitäten würdigend erkannt wurden. Satz für Satz fühlte er sich in positivem Sinn durchschaut und in seinen Absichten verstanden.

Die oberste Aufgabe, zu der wir berufen sind, ist für jeden, sein eigenes Leben zu führen.“ Ja, das waren exakt die ständigen Überlegungen, die Dr. Hohenadl umtrieben.

Beim nächsten Satz hatte Dr. Hohenadl zunächst gestutzt. „Altsein ist ein herrlich Ding, wenn man nicht verlernt hat, was anfangen heißt.“ Denn er kam sich mit seinen fünfundvierzig Jahren noch keineswegs alt vor. Er brauchte aber nicht lang, um zu verstehen, dass der Satz vorausblickend und als Ermutigung gemeint war. Ihm wurde zugetraut, selbst später im Alter nicht nachzulassen, immer wieder neu anzusetzen und geistige Anstrengung nicht zu scheuen.

Mit Abstand am meisten freute ihn der Satz: „Jeder ist berufen, etwas in der Welt zur Vollendung zu bringen.“

Damit konnte nichts anderes gemeint sein, als Dr. Hohenadls oberstes Ziel, die eigenen Bedürfnisse im Zaum zu halten, um so der Welt einschließlich der Stadt Wien eine Chance für die Zukunft zu geben. Mit dieser Einstellung nahm es Dr. Hohenadl seit jeher hin, hie und da als Geizkragen bezeichnet zu werden.

Seine vielen Briefe an den Magistrat mit konstruktiven Vorschlägen, etwa zur Verbesserung der Energiegewinnung, zur Selbstversorgung der Haushalte und zur Erschließung neuer Einnahmequellen für die Stadt, waren zwar meist lapidar beantwortet worden, hatten aber, wie er nun an dem Glückwunschschreiben voller Lob merkte, an oberster Stelle doch Eindruck gemacht. Er fühlte sich dadurch zur Überlegung angespornt, seine vielen Vorschläge zusammenfassend – vielleicht in Form einer kleinen Broschüre – dem Magistrat neuerlich zu unterbreiten und mit weiterführenden Ideen anzureichern. Er sah eine Menge Arbeit auf sich zukommen.

Dr. Hohenadls gute Stimmung hielt an, doch tauchten in seinen Gedanken Spuren von Unzufriedenheit auf. Das Glückwunschschreiben war zweifellos ein triftiger Grund zur Freude, aber standen der Stadt, wenn es darum ging, einen Bürger zu ehren, nicht auch noch andere Mittel zur Verfügung? Kam denn nicht auch Edelmetall in Frage? Hatte man nicht von Ehrenzeichen für Verdienste um das Land Wien gehört? Vom Goldenen Rathausmann? Und die Ernennung zum Ehrenbürger hätte Dr. Hohenadl gewiss nicht abgelehnt. In diesen Fällen nahm sich der Bürgermeister Zeit für die Überreichung und es mussten Lobreden gehalten werden. Da war also noch Luft nach oben, stellte Dr. Hohenadl fest. Die Aussicht auf eine Bronzebüste im Stadtpark zog er für sich nur flüchtig in Betracht, weil eine der Voraussetzungen dafür ja war, dass einer bereits verstorben sein musste.

Lang war Dr. Hohenadl gar nicht bewusst, woher ein Gutteil seines Hochgefühls stammte. Dann fiel es ihm ein: Auch sein Vater hatte einst als Privatgelehrter ein Glückwunschschreiben des Bürgermeisters bekommen. Aber sein Vater musste dazu erst siebzig Jahre alt werden. Und er hatte diese Stufe möglicher Ehrungen nun schon fünfundzwanzig Jahre früher erreicht. Wie gern hätte er das Schreiben des Bürgermeisters seinem Vater gezeigt. Es wäre für ihn ein tiefgreifender Akt der Rechtfertigung gewesen, es zu etwas gebracht zu haben. Denn so lautete eine permanente Forderung in der Familie: Man musste es zu etwas bringen.

So dauerhaft Dr. Hohenadls Freude über den Brief zu sein schien, so unmissverständlich stellten sich auch Bedenken ein. Er hätte gerne gewusst, in welcher Anzahl der Bürgermeister solche Briefe verschickte. Geschah es inflationär oder war die Zahl der Geehrten überschaubar? Wie unterschieden sich die Briefe? Gab es Abstufungen im Lob, von überschwänglich – wie in seinem Fall – bis zu eher kühl und sachlich?

Sicher wusste Prof. Proschek von der Stadtbibliothek, mit dem er sich gelegentlich im Cafe Jelinek oder im Cafe Korb traf, Genaueres darüber. Er nahm sich vor, das Thema bei einer ihrer nächsten Begegnungen so behutsam wie möglich zur Sprache zu bringen. Das gelang Dr. Hohenadl ohne eigene Anstrengung. Als er ins Cafe Jelinek kam, saß Prof. Proschek mit einem zweiten Herrn an seinem Tisch schon da. Prof. Proschek stellte vor: „Senatsrat Sochorek. Ein sehr wichtiger Mann in der Stadt, müssen Sie wissen.“

„Gewesen, gewesen“, wehrte der etwas übergewichtige Mann ab, der sich schwer tat beim Aufstehen und, weil er die Anstrengung nicht wiederholen wollte, gleich stehenblieb, um sich zu verabschieden.

„Senatsrat Sochorek ist schon lang im Ruhestand. Wir waren vor mehr als zehn Jahren in einer Kommission, die sich mit einer Reform des Ehrungswesens der Stadt Wien beschäftigte.“

Dr. Hohenadl horchte auf und fragte elektrisiert nach: „Was soll man sich unter einer Reform des Ehrungswesens vorstellen?“

Prof. Sochorek gab Auskunft. „Es geschah im Zug einer Verwaltungsreform. Der Personalstand des Ehrungswesens war auf zwanzig angewachsen. Niemand kannte sich im angewachsenen Wust von Ehrungen aus. Eine Kommission sollte Vorschläge zur Vereinfachung des Ehrungswesens ausarbeiten. Sechs Beamte waren allein damit beschäftigt, von früh bis spät Glückwunschschreiben zu verfassen. Drei Studierende von der Universität für angewandte Kunst hatte man unter Vertrag genommen und einen Eid zur Verschwiegenheit ableisten lassen, nur damit sie drei Tage in der Woche den wie original aussehenden Schriftzug des Bürgermeisters unter jeden dieser Briefe setzten. Dem jeweiligen Schreiben gingen oft ausführliche Recherchen voraus, weil man partout wissen wollte, was die betreffende Person ehrenwert machte. Das Schreiben der Briefe wurde als eine heikle Prozedur betrachtet. Dies machte ein erlesener Kreis von Beamten, von denen man wusste, dass sie eigentlich hätten Schriftsteller werden wollen. Einige von ihnen hatten tatsächlich den einen oder anderen Gedichtband veröffentlicht. Wie gesagt, der Aufwand war beträchtlich. Damit musste Schluss gemacht werden. Keine individuellen Briefe mehr. Senatsrat Sochorek und ich setzten das gegen teils heftigen Widerstand durch. Von da an gab es nur noch Standardbriefe, zwei Muster, die für alle zu Ehrenden passen mussten. Und das funktioniert seitdem tadellos. Es gibt keine Beschwerden, nur Dankbarkeit.“

Dr. Hohenadl übersah vor lauter Staunen den Kellner, der schon seit längerem seine Bestellung entgegennehmen wollte. „Ein Kleiner Brauner, wie üblich?“ Prof. Proschek nickte anstelle von Dr. Hohenadl.

„Unmöglich! Unvorstellbar!“, rief Dr. Hohenadl aus. Wie können sich ganz unterschiedliche Menschen von einem Schimmelbrief geehrt fühlen?“

„Oh doch, das geht. Es hat mit Psychologie zu tun. Sie brauchen sich nur in jemanden hineinzudenken, der einen wie persönlich aussehenden Brief vom Bürgermeister bekommt. Allein durch diese Tatsache fühlt sich der Mensch, der Empfänger dieses Brief, geehrt. Was drin steht, ist zweitranging. Das Verfassen dieses Briefs hat uns die größte Freude bereitet. Es ging darum, Formulierungen zu finden, die bedeutungsvoll klingen und feierlich, die aber weitgehend sinnfrei sind, Formulierungen, die alles und nichts heißen können, Formulierungen, in die jeder die von ihm gewünschte Bedeutung von sich aus hineinlesen kann. Die Sprüche des Orakels von Delphi waren uns als Vorbild eine große Hilfe.

„Solche Formulierungen gibt es?“

„Oh, ja! Einige kann ich heute noch auswendig: Jeder ist berufen, etwas in der Welt zur Vollendung zu bringen. Der Satz stammt vom Vorgänger Senatsrat Sochoreks. Klingt wie von einem Philosophen. Aber ich könnte auch auf einen dieser Sätze das Urheberrecht beanspruchen: Die oberste Aufgabe, zu der wir berufen sind, ist für jeden, sein eigenes Leben zu führen.

Es entstand eine Pause. Dr. Hohenadl, blass im Gesicht, starrte vor sich hin. Zu Hause angekommen las er das Glückwunschschreiben des Bürgermeisters noch einmal durch, zerknüllte das Blatt und warf es in den Papierkorb.

Damals wusste Dr. Hohenadl noch nicht, dass er vierzehn Tage später einen weiteren Brief des Magistrats bekommen würde. Darin entschuldigte sich ein Vertragsbediensteter Gerzabek für ein irrtümlich an ihn, Dr. Hohenadl, gerichtetes Glückwunschschreiben. Es hätte seinem Vater gegolten, der aber, „wie zu unserem tiefen Bedauern inzwischen festgestellt werden musste, leider schon verstorben ist.“

Dr. Hohenadl wird nach der Lektüre des Briefs denken, dass die von Prof. Proschek und Senatsrat Sochorek durchgesetzte Verminderung der Zahl der Beamten im Wiener Ehrungswesen, doch voreilig gewesen war.

Werner Thuswaldners Prosaband „Die Welt des Dr. Hohenadl. Ansichten eines gelernten Österreichers“ ist 2019 bei Ecowin erschienen
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Aus dem produktiven Leben eines Knauserers