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Von der Animalie des Menschen

WINTERFEST / THÉÂTRE D'UN JOUR

29/11/24 Wie das Théâtre d’Un Jour mit seiner Produktion Reclaim innerhalb einer Stunde von der Barbarei zur Zivilisation und wieder zurück performt. Ur-Rituale und Musik. Die zweite Winterfest-Premiere.

Von Erhard Petzel

Ein Beat, später Hundegebell, kommen als Einspielung von außen. Hundeschädel an einer zum Pfahl veredelten Strebe und ein Holzklotz in der weißen Arena vergruseln die Atmosphäre. Da tritt die junge Frau auf und führt eine Kinderpuppe mit sich, der die Augen verbunden werden. Die andere bringt ein Lammfell, in das die Puppe gewickelt und darin am Pfahl abgelegt wird. Auftakt zum Höllentanz. Eine in einfachen Mustern geschlagene Rahmentrommel eröffnet eine primitive Choreographie eines Urschrei-Rituals, worin die kleine Männergruppe und die Frau zunächst noch gemeinsam unterwegs sind. Mit Feuerschalen setzt eine erste Beruhigung ein. Die zweite Frau entpuppt sich als Sängerin. Zwei Damen an ihren Celli ergeben ein gediegenes Basso continuo für Lieder und barocke Arien in verschiedenen Sprachen und machen bei Bedarf Stimmung.

Dann wird es tierisch um die junge Frau, die gestemmt und gekippt und als Welle von den Männern durch den Raum geschwemmt wird. Nach den Hebefiguren eines Bändigers landet sie am Block und wird von wilden Wolfsschädel-Männern lautstark umheult. Ein wildes Kämpfen und Werfen hebt an. Trotz aggressiver Schrei-Orgien aus unterschiedlichen Gemütslagen gibt es hündische Interaktion mit dem Publikum, indem fremde Schuhe rapportiert werden. Auch der Sängerin bleibt nichts erspart, wenngleich sie letztlich erfolgreich mit ihrer Kunst zur Befriedung der animalischen Turbulenzen beitragen wird. Sie muss ihre Balladen und Arien aber in allen möglichen und unmöglichen Lebenslagen vollführen, wird getragen und herumgewuzelt, einmal sogar ins Publikum gestellt, das angehalten wird, sie zu sichern, und ist selbst in akrobatische Figuren eingebaut. Das passiert aber auch mit einem Cello, das von seiner Künstlerin ununterbrochen bis zum dreifachen Turm in Spitzenposition gestrichen wird.

Einerseits Geschrei, andrerseits Kunstgesang. Einerseits gewaltiger Furor, andrerseits elaborierte Musikkultur als Untergrund für die unterschiedlichsten akrobatischen Ensemblebildungen. Einerseits extreme Verstärkung des Impulses, andrerseits die ironische Lust am Kontrast. Das Publikum sitzt keinesfalls im gesicherten Raum. Die Verletzung der Grenze geht so weit, dass eine Dame umgesetzt wird und etliche Leute ins akrobatische Geschehen einbezogen werden. Das Gefuchtel mit einer Axt ist auch nichts für schwache Nerven.

Patrick Masset orientierte sich als Autor und Regisseur an alten, kleinasiatischen Ritualen (Ko’ch) und wurde vom Buch Le ciel et la marmite von Sylvie Lasserre bezüglich der Themen Kreislauf und Nähe beeinflusst. Die Nähe gilt dem Publikum ebenso wie den animalischen bis kultivierten Körperaktionen. Der Kreislauf findet als Figur in der runden Arena statt, ist aber ein Prinzip im kreisenden Fortschreiten des Geschehens.

Die Geschichte schließt sich. Zu einer großen Klage erinnert man sich wieder der Kinderpuppe (Polina Borissova), die über einen praktischen Kopfzopf gut zu führen und anrührend zu bewegen ist, sodass sie in die Choreografien (Dominique Duszynski) der Truppe eingebaut wird. Dieses Leben will aber erst verdient sein, indem die Arme auf der Zentralmatte geschupft wird, bis sie leblos (!) liegen bleibt. Das mündet in ein erneutes Aufleben des wilden Beginns mit Schrei-Choreographie und Männerwölfen, die von der jungen Frau im Schafspelz aktiviert werden. Mit Frau und Puppe wird ein akrobatisches Ritual der drei Türme aufgebaut. Das bittere Ende ist der Sturz der Mutter ins schwarze Nichts.

Das Publikum stürzt sich in einen langen Begeisterungstaumel und wird vom Ensemble in die Begegnungszone auf der Arena eingeladen zum Plaudern und Trinken. Nachhaltig ziehen die Bilder dieser mythischen Stunde durch die Erinnerung, als offene Erzählung über die Kraft des Triebhaften beim Individuum im Zusammenspiel mit der Gruppe. Die Körpersau wird aus den vom Schweiß glänzenden Körpern gelassen und verträgt sich doch so gut mit dem elaborierten Empfinden aus glorreicher Gesangstradition, deren Virtuosität durch puren Circus eindrücklich hinterlegt wird.

Bis 8. Dezember im Compagniezelt im Volksgarten. Die nächste Winterfest-Premiere mit dem „Cirque Pardi!“ ist am 13. Dezember – www.winterfest.at
Bilder: Winterfest / Magdalena Lepka

 

 

 

 

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